Als essentielles Mineral zählt Selen zur Gruppe der Spurenelemente. Wir brauchen also nur sehr kleine Mengen davon. Gerade einmal 5 – 15 mg liegen in unserem Körper vor. Auf diese ist er jedoch zwingend angewiesen! Denn Selen trägt unter anderem zur normalen Funktion des Immunsystems sowie der Schilddrüse bei und schützt unsere Zellen vor oxidativem Stress [1]. Frühe Anzeichen eines Selenmangels können dünne Haare und Nägel, muskuläre Schwäche und Muskelabbau sowie chronische Entzündungen sein. Da Selen jedoch in zahlreiche, sogenannte Selenoproteine eingebaut wird, die in verschiedenen Stoffwechselprozessen involviert sind, können die Folgen eines Selenmangels sehr vielseitig sein [2].
Dreh und Angelpunkt: Die Selenoproteine
Als Bestandteil der Aminosäure Selenocystein wird Selen in rund dreißig Enzyme – die Selenoproteine – eingebaut. Sie spielen eine Rolle bei oxidativen Prozessen sowie der Entzündungsregulation. Von besonderer Bedeutung ist hier das Selenoprotein P. Als Speicher- und Transportprotein verteilt es Selen an die Zielzellen und ermöglicht damit die Synthese der weiteren selenhaltigen Enzyme.
Dazu zählt zum Beispiel das Enzym Glutathionperoxidase, welches antioxidativ wirkt, indem es freie Radikale neutralisiert und damit unsere Zellen vor Alterungs- und Erkrankungsprozessen schützt. Andere Metabolite der Selenoproteine spielen außerdem eine Rolle in der Krebsprävention sowie in der Entstehung kardiovaskulärer Erkrankungen. Das selenhaltige Enzym Jodthyronin-Dejodase ist wiederum im Hormonstoffwechsel der Schilddrüse zuständig für die Umwandlung und Aktivierung der Hormone. Sie katalysiert zum Beispiel die Umwandlung von inaktivem fT4 in aktives fT3. Ein Selenmangel kann daher eine Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion) mit bedingen [3].
Selen unterstützt Entgiftung, Immunsystem und Fruchtbarkeit
Selen hat die Affinität, Schwermetalle wie Quecksilber, Arsen und Blei zu binden und fördert somit deren Ausscheidung. Auf diese Weise kann es bei einer erhöhten Belastung zu einem vermehrten Verbrauch von Selen kommen [2].
Hohe Gehalte an Selen finden sich in der Milz, Leber und in den Lymphknoten, die wichtige Organe unseres Immunsystems darstellen. Es wirkt dort auf humorale und zelluläre Immunparameter, indem es die Bildung von Antikörpern und die Aktivität von Immunzellen wie T-Zellen und Natürlichen Killerzellen stimuliert [4]. Doch nicht nur in unseren Organen ist Selen zu finden – auch die männlichen Spermien benötigen es. Bei einem Kinderwunsch sollte insbesondere der Mann auf eine gute Selenversorgung achten, da die Spermienproduktion und -qualität von einer ausreichenden Versorgung abhängen [5]. Schwangere Frauen können wiederum profitieren, da Selen das Risiko einer Frühgeburt und eines Schwangerschaftsdiabetes [6] reduzieren kann.
Wie sind Bedarf und Versorgung mit Selen
Selenquellen in der Ernährung
Selen findet sich sowohl in tierischen Produkten wie Fleisch, Fisch, Meeresfrüchten und Eiern, als auch in pflanzlichen Lebensmitteln wie Vollkornprodukten, Linsen, Sojabohnen, Hefe und Knoblauch. Der Gehalt in Pflanzen hängt dabei vom Selengehalt des Bodens ab und kann sehr stark schwanken. In Europa sind die Böden eher arm an Selen. Zudem hat die Universität ETH Zürich in Modellrechnungen ermittelt, dass der Selengehalt in europäischen Böden bis Ende diesen Jahrhunderts aufgrund des Klimawandels sogar noch weiter fallen wird, um etwa 9 % [7].
Die höchsten Selengehalte unter den Lebensmitteln enthält die Paranuss, wobei die Gehalte hier besonders stark schwanken können. Zudem weist das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) darauf hin, dass Paranüsse eine besonders hohe radioaktive Belastung aufweisen, sodass der Verzehr nicht uneingeschränkt empfehlenswert ist. Kinder, Jugendliche, Schwangere und Stillende sollten laut BfS vorsorglich ganz auf den Verzehr von Paranüssen verzichten [8]. Um den Selengehalt pflanzlicher Lebensmittel abschätzen zu können, kann auf die Herkunft geachtet werden. Die Böden Nordamerikas sind verhältnismäßig reich an Selen. So können 100 g Linsen aus Kanada den Tagesbedarf an Selen bereits decken [9], während man von deutschen Linsen über ein Kilo verzehren müsste [10].
Die europäischen Boden sind selenarm, sodass pflanzliche Lebensmittel keine zuverlässige Quelle darstellen.
Für die europäische Bevölkerung sind tierische Lebensmittel die zuverlässigen Hauptlieferanten für Selen, wobei dies in erster Linie durch angereichertes Futter erzielt wird [11]. Im Grunde genommen findet also eine indirekte Supplementierung der Bevölkerung über tierische Produkte statt.
Wie viel Selen brauchen wir?
Die Referenzwerte der Zufuhr von Selen beruhen bisher auf Schätzungen und werden für den D-A-CH Raum für männliche Jugendliche und Erwachsene mit 70 µg/Tag und für weibliche mit 60 µg/Tag angegeben. Stillenden Frauen wird eine leicht höhere Zufuhr von 75 µg/Tag empfohlen [11]. Zurückzuführen sind die Schätzungen auf die Beobachtung, dass der Spiegel an Selenoproteinen bei einer Zufuhr von 1 µg/Tag pro Kilogramm Körpergewicht ein Plateau erreicht und höhere Dosierungen nicht mehr zu höheren Konzentrationen führen [12].
Bisher gibt es keine repräsentativen Messungen der Selenspiegel in Deutschland bzw. Europa. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat jedoch Verzehrdaten aus sieben europäischen Ländern, u.a. Deutschland, ausgewertet und auf Basis einer eigenen Datenbank zum Selengehalt in Lebensmitteln die mittlere Selenzufuhr ermittelt. Bei Erwachsenen liegt die Selenaufnahme demnach zwischen 31 und 66 µg pro Tag. Vegetarier und Veganer sind hierbei im Schnitt schlechter versorgt, da Selen in Europa vor allem aus tierischen Lebensmitteln aufgenommen wird [13]. Eine ähnliche Untersuchung zeigte außerdem, dass mehr als ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung in Europa weniger als 35 bzw. 30 μg (Männer/Frauen) Selen pro Tag zu sich nimmt [14]. Ein ausgeprägter Selenmangel ist damit in den europäischen Ländern nicht zu erwarten, einen optimalen Versorgungsspiegel werden die meisten jedoch auch nicht erreichen.
Wie kann eine Labordiagnostik aussehen?
Da Selen zu etwa 40 % frei im Serum und zu 60 % in den Blutzellen vorliegt, empfiehlt sich die Messung im Vollblut, welche den Gesamtselenstatus angibt. Bei der Betrachtung der gemessenen Spiegel ist eines zu berücksichtigen: Referenzwerte, die vom Labor angegeben werden, basieren in aller Regel auf Durchschnittswerten der Bevölkerung. Da jedoch aufgrund der selenarmen Böden in Europa von einem flächendeckend suboptimalen Status auszugehen ist, ist der Referenzbereich nicht gleichzusetzen mit dem physiologischen Optimalbereich. Einige Labore geben daher bereits korrigierte Zielbereiche an und kennzeichnen diese entsprechend.
In der orthomolekularen Medizin werden Optimalwerte im Vollblut zwischen 150 µg/L und 200 µg/L angegeben. Auf diese Weise wird sicher gestellt, dass alle selenabhängigen Enzyme ausreichend versorgt werden können [15, 16]. Zum Vergleich: Erst Selenspiegel oberhalb von 1.000 µg/l sind gesundheitlich bedenklich. Alternativ zur Messung des Selens im Vollblut wird auch die Messung des Selenoprotein P im Serum angeboten. Es spiegelt das zirkulierende, bioverfügbare Selen wieder, da die Zielzellen über das Selenoprotein P mit Selen versorgt werden [17]. Nach Beginn einer Supplementierung empfiehlt sich eine Kontrolle des Spiegels nach 3 Monaten.
Versorgung über Supplementierung
Mit Blick auf die selenarmen Böden in Europa kommt insbesondere bei vegetarischer und veganer Ernährung eine verlässliche Selenversorgung über eine Supplementierung in Frage. Hierbei stehen verschiedene Formen von Selen zur Verfügung: In organischer Form (z.B. Selenmethionin, Selen gebunden an die Aminosäure Methionin) wird es besonders effizient in Eiweiße und somit in die Muskulatur und ins Gewebe eingebaut. Dort kann es dementsprechend gespeichert werden. Diese Ansammlungen können jedoch potenziell toxisch werden, wenn das Gewebe zu schnell oder in zu großer Menge abgebaut und das Selen in großen Mengen freigesetzt wird. Für die Supplementierung sind daher anorganische, aktive Formen (z.B. Natriumselenat und Natriumselenit, Selen gebunden an Natrium) vorzuziehen. Sie sind wasserlöslich und werden daher nicht ins Gewebe eingespeichert. Dafür sind sie schnell verfügbar und können direkt ihre antioxidative, transformierende und entgiftende Wirkung entfalten. [16]
Nüchterne Seleneinnahme für optimale Bioverfügbarkeit
Therapeutische Gaben von Selen liegen in aller Regel bei 100-200 µg pro Tag. Laut der EFSA ist die Einnahme von bis zu 255 µg Selen pro Tag ohne Risiko für schädliche Nebenwirkungen [18]. Andere Behörden halten Einnahmen bis 400 µg für sicher. Höhere Einnahmen sollten nur in Begleitung und nach Absprache mit einem Therapeuten stattfinden. Typische Anzeichen eines Selenüberschusses sind knoblauchartiger Atemgeruch, Haarverlust, gestörte Nagelbildung sowie Magen-Darm-Beschwerden [11].
Für eine ideale Bioverfügbarkeit, erfolgt die Einnahme von Selen separat am Morgen im nüchternen Zustand. Alternativ bietet es sich tagsüber zwischen den Mahlzeiten oder abends, 2-3 Stunden nach der letzten Mahlzeit vor dem Zubettgehen an.
[1] Health Claims Verordnung: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/ALL/?uri=CELEX%3A32012R0432 Zugriff am 14.03.2024
[2] Burgerstein Foundation (2023) Burgerstein Handbuch Nährstoffe. 14. Auflage. TRIAS Verlag.
[3] Q Sun, E Oltra, DAJ Dijck-Brouwer, et al. (2023) Autoantibodies to selenoprotein P in chronic fatigue syndrome suggest selenium transport impairment and acquired resistance to thyroid hormone. Redox Biol. 2023 Sep:65:102796. doi: 10.1016/j.redox.2023.102796.
[4] Y Mehdi, A Au, W Salah, et al. (2013) Selenium in the Environment, Metabolism and Involvement in Body Functions. Molecules. 2021 Sep; 13(9): 3256. doi: 10.3390/molecules18033292.
[5] A Mojadadi, J-L Hornick, L Istasse, et al. (2021) Role for Selenium in Metabolic Homeostasis and Human Reproduction. Nutrients. 2013 Mar; 18(3): 3292–3311. doi: 10.3390/nu13093256.
[6] K Demircan, RC Jensen, TS Chillon, et al. (2023) Serum selenium, selenoprotein P, and glutathione peroxidase 3 during early and late pregnancy in association with gestational diabetes mellitus: Prospective Odense Child Cohort. Am J Clin Nutr. 2023 Dec;118(6):1224-1234. doi: 10.1016/j.ajcnut.2023.09.025.
[7] Jones GD, Droz B, Greve P, et al. (2017) Selenium deficiency risk predicted to increase under future climate change. Proc Natl Acad Sci U S A. 2017 Mar 14;114(11):2848-2853. doi: 10.1073/pnas.1611576114.
[8] Bundesinstitut für Strahlenschutz. Natürliche Radioaktivität von Paranüssen. Online: https://www.bfs.de/DE/themen/ion/umwelt/lebensmittel/paranuesse/paranuesse.html#:~:text=Für Erwachsene ist ein maßvoller,übermäßigen Verzehr von Paranüssen absehen. Zugriff am 14.03.2024
[9] D Thavarajah, J Ruszkowski, A Vandenberg, et al. (2008) High potential for selenium biofortification of lentils ( Lens culinaris L.). J Agric Food Chem. 2008 Nov 26;56(22):10747-53. doi: 10.1021/jf802307h.
[10] SW Souci, W Fachmann, H Kraut (2016) Die Zusammensetzung der Lebensmittel, Nährwert-Tabellen (8. Auflage). Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart. ISBN 978-3-8047-5072-2
[11] Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Ausgewählte Fragen und Antworten zu Selen. Online: https://www.dge.de/gesunde-ernaehrung/faq/selen Zugriff am 14.03.2024
[12] Y Xia, KE Hill, P Li, et al. (2010) Optimization of selenoprotein P and other plasma selenium biomarkers for the assessment of the selenium nutritional requirement: a placebo-controlled, double-blind study of selenomethionine supplementation in selenium-deficient Chinese subjects. Am J Clin Nutr. 2010 Sep;92(3):525-31. doi: 10.3945/ajcn.2010.29642. Online verfügbar.
[13] EFSA NDA Panel (2014) Scientific Opinion on Dietary Reference Values for selenium. EFSA Journal 2014;12(10):3846, 67 pp. doi:10.2903/j.efsa.2014.3846 Online verfügbar.
[14] BR Viñas, LR Barba, J Ngo, et al. (2011) Projected prevalence of inadequate nutrient intakes in Europe. Ann Nutr Metab. 2011;59(2-4):84-95. doi: 10.1159/000332762. Online verfügbar.
[15] V Schmiedel (2019) Nährstofftherapie – Orthomolekulare Medizin in Prävention, Diagnostik und Therapie (4. Auflage). Stuttgart: Georg Thieme Verlag.
[16] H Orfanos-Boeckel (2022) Nährstoff-Therapie – Orthomolekulare Medizin & Bioidentische Hormone: Mangel ausgleichen, Beschwerden lindern, Alterungsprozesse aufhalten (1. Auflage). Stuttgart: TRIAS Verlag in Georg Thieme Verlag.
[17] SM Müller, et al. (2020) Functional Biomarkers for the Selenium Status in a Human Nutritional Intervention Study. Nutrients vol. 12,3 676. 2 Mar. 2020. doi:10.3390/nu12030676.
[18] European Food Safety Authority (2023). Scientific opinion on the tolerable upper intake level of selenium. doi: 10.2903/j.efsa.2023.7704. Online verfügbar.